An meine Freunde, die Theaterkünstler:innen der Welt,
ich schreibe Euch diese Botschaft zum Welttheatertag, doch so sehr ich mich freue, zu Euch zu sprechen,
so sehr spüre ich die Last und Verunsicherung, die wir alle - in und außerhalb des Theaters - als
zermalmenden Druck erfahren, angesichts des heutigen Zustands der Welt. Diese Verunsicherung wird
verursacht durch die derzeitigen Konflikte, Kriege und Naturkatastrophen, die nicht nur verheerende
Auswirkungen auf unsere materielle, sondern auch auf unsere geistige Welt und unseren Seelenfrieden
haben.
Ich wende mich heute an Euch, mit dem Gefühl, dass sich die Welt in einzelne Inseln auflöst, oder sie sich
wie Schiffe im Nebel verliert. Jedes einzelne unter Segeln, aber steuerlos und ohne Sicht, jedoch mit der
Hoffnung einen sicheren Hafen zu erreichen, der es nach langen Irrfahrten aufnimmt.
Nie war unsere Welt so verbunden wie heute, gleichzeitig waren wir noch nie so uneins und weit
voneinander entfernt. Hier liegt das dramatische Paradox, welches das Zeitgeschehen uns auferlegt. Trotz
aller moderner Berichterstattung und Kommunikation, die jede geografische Grenze überwindet,
übersteigen die Konflikte und Spannungen, deren Zeuge wir sind, die Möglichkeiten unserer logischen
Wahrnehmung und inmitten dieser scheinbaren Annäherung entsteht eine grundlegende Kluft, die uns
vom ursprünglichen Wesen der Menschheit entfernt.
Das Theater ist ein menschlicher Akt, basierend auf dem Ursprung des Lebens. Um es mit den Worten des
großen Konstantin Stanislawski zu sagen: "Komm nie mit Schlamm an den Füßen ins Theater. Lasst Euren
Staub und Schmutz draußen. Lasst Eure Sorgen, Streitereien, Schwierigkeiten (…) - all die Dinge, die Euer
Leben verderben und Euch von der Kunst ablenken - vor der Tür."
Wenn wir die Bühne betreten, betreten wir sie mit unserem Leben für einen anderen Menschen. Dieses
eine Leben hat die großartige Fähigkeit, sich zu teilen und in zahlreiche Leben zu verwandeln, die wir in
die Welt bringen, damit sie gedeihen und weitergegeben werden.
In der Welt des Theaters erschaffen wir als Dramatiker:innen, Regisseur:innen, Schauspieler:innen,
Bühnenbildner:innen, Dichter:innen, Musiker:innen, Choreograph:innen und Techniker:innen ausnahmslos
Leben, das beginnt, wenn wir die Bühne betreten.
Es braucht eine fürsorgliche Hand, die es hält, ein
gütiges Herz, das mit ihm fühlt, und einen nüchternen Verstand, der Gründe liefert um weiterzumachen
und zu überleben.
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Botschafterin Samiha Ayoub,Ägypten
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass das, was wir auf der Bühne tun, der Akt des Lebens selbst ist, aus
dem Nichts hervorgebracht, wie Glut, die die Dunkelheit erhellt und bei Kälte wärmt. Wir sind es, die
diesem Leben seinen Glanz verleihen, die es verkörpern. Wir machen es lebendig und sinnvoll, wir bieten
Gründe, es zu verstehen. Wir nutzen das Licht der Kunst, um die Dunkelheit der Unwissenheit und des
Extremismus zu bekämpfen. Wir nehmen die Bedingungen des Lebens an, damit es sich ausbreiten kann.
Dafür setzen wir Zeit, Schweiß, Tränen, Blut und Nerven ein – tun alles, um dieses Ziel zu erreichen; die
Werte von Wahrheit, Gutem und Schönem zu verteidigen, wahrhaftig überzeugt, dass dieses Leben es
verdient, gelebt zu werden.
Ich spreche heute, nicht nur um die Mutter aller Künste, das Theater, an seinem Welttag zu feiern.
Vielmehr lade ich Euch ein, Hand in Hand und Schulter an Schulter zusammenzustehen und unsere Worte
lauthals so erklingen zu lassen, wie wir es von unseren Bühnen gewohnt sind; um das Gewissen der
ganzen Welt zu wecken und gemeinsam nach der verlorenen Idee von Menschlichkeit zu suchen. Den
freien, toleranten, liebevollen, mitfühlenden, sanften und respektvollen Menschen. Und damit das
abscheuliche Bild von Brutalität, Rassismus, blutigen Konflikten, einseitigem Denken und Extremismus
abzuwehren. Zieht Eure Schuhe aus dem Morast der Kriege, der blutigen Konflikte, und lasst sie an der Tür
zum Theater stehen.
Vielleicht wird dadurch unsere Menschlichkeit wieder zu einer kategorischen
Gewissheit, die uns stolz macht, Menschen, Brüder und Schwestern, zu sein.
Es ist unsere Aufgabe als Theaterschaffende und Träger:innen der Fackel der Aufklärung, seit dem ersten
Auftritt des ersten Schauspielers auf der ersten Bühne, in erster Linie allem Hässlichen, Blutigen und
Unmenschlichen entgegenzutreten. Wir begegnen ihm mit allem, was schön, rein und menschlich ist. Wir
und niemand sonst haben die Fähigkeit, Leben zu schaffen. Lasst uns gemeinsam für eine Welt und eine
Menschheit eintreten.
Samiha Ayoub
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Samiha Ayoub ist eine hoch geehrte und namhafte ägyptische Schauspielerin. Sie stammt aus Kairo und
erhielt 1953 ihren Abschluss am Higher Institute of Dramatic Arts, wo sie von dem Dramatiker Zaki
Tulaimat unterrichtet wurde. Im Laufe ihrer künstlerischen Karriere spielte sie in rund 170 Theaterstücken.
Obwohl der Schwerpunkt ihres künstlerischen Schaffens im Theater liegt, war sie auch im Kino und im
Fernsehen überaus erfolgreich.